Artikel

Anfang 1995 erschien dann die MCD „Der Die Das“. Auf dieser MCD befinden sich u.a. die Stücke „Der Wandel“ („Die Realität - ist die abstrakte Illusion - zerstörter Ideale“) und „Die Form“ („Eingebrochen im See der Träume - exzentrisches Eis zerteilt das Opfer - weiß wird rot - getränkt vom Leben“). Beide Stücke leben von sehr gefühlsintensiven Melodiebögen. Mit diesem Werk schlugen die Erben sowohl lyrisch, als auch musikalisch ein völlig neues Kapitel auf. Es ist durchzogen mit Humor; die MCD klingt leichter und frischer als die Trilogie.

Im April 1995 erschien dann das namenlose „blaue“ Album als viertes Studioalbum. „Blau“ hat ganz ganz viele Ebenen. Es thematisiert zum einen, wie ein Schüler von zu Hause wegläuft, weil er Angst vor dem hat, was vor ihm liegt: vor den Eltern, vor den Regressen, wenn er eine schlechte Note mit nach Hause bringt. Es wird auch das Analphabetentum erwähnt, das als weiterer Querverweis zur Schule dient. Das Analphabetentum wird praktisch eingebrannt, was nichts mit der körperlichen Realität zu tun hat, aber es geht darum, wie sich ein Schüler fühlt, wenn er in der Schule andauernd gedemütigt wird.

Dann ist da der Fluchtgedanke – aus verschiedenen Perspektiven betrachtet - dominierend, die Flucht aus einem damaligen KZ oder aus einem Gefangenenlager. Es geht um eine Minderheit, die verfolgt wird, die nicht unbedingt Juden zur Zeit des dritten Reiches sein müssen, sondern genau so gut Homosexuelle, Sozialdemokraten, Kommunisten usw. sein konnten. Die Thematik konzentriert sich im Allgemeinen auf einen Andersdenkenden, der vom herrschenden Regime verfolgt wird.

Die CD ist dreigeteilt: „Pascal“ („Unfaßbar war Dein Schweigen - Dein Lachen war verstummt - solange ich auch flehte - Du gebarst kein Wort“) erzählt die Geschichte aus der Sicht der Mutter, die ständig von ihrem verstorbenen Kind träumt. Diese Träume machen sie anfangs fast verrückt, bis sie irgendwann weiß, dass ihr Traum Realität ist; die Mutter akzeptiert den Tod ihres Kindes.

„Rebell“ („Rebell besiege die - die besiegt werden müssen - bevor sie Dir Deinen Atem stehlen - Es ist Deine Schlacht - keiner kann Dich stützen - denn nur Du allein vermagst es - Deine Zunge siegreich zu führen“) erzählt die Vorgeschichte aus dem Blickwinkel des Rebellen, einem Gefangenen, dem die Flucht gelang, der aber im Laufe seiner Flucht von den unfassbaren Ereignissen, die ihm widerfahren sind, wahnsinnig wird. „Blau“ erzählt dieselbe Geschichte aus der Perspektive des Nachrichtensprechers, also eines Betrachters. Das Blau der kalten Winterlandschaft wird eins mit den flimmernden Bildern der Nachrichten über sein Schicksal, die von seinen eigenen Gedanken emotionslos kommentiert werden.

Bei „Blau“ spielt die derzeitige Realität im Leben mit, blau sind die blauen Bilder des Fernsehens, diese kalten Nachrichten, man konsumiert eigentlich nur noch Informationen, aber man verarbeitet sie gefühlsmäßig nicht mehr. Das blaue Album macht die Medien mit verantwortlich für die Kälte und Gleichgültigkeit; sie präsentieren pausenlos, leidenschaftslos, unemotional und stumpf Gewalt. Die CD kann durchaus auch als Angriff auf die Medien verstanden werden, die Gewalt abstrahieren und dadurch für die Gesellschaft vertretbar machen.

Aus diesem Grund war der Mikrofiche in der CD, es gab kein Cover, es gab nichts, nur das reine Blau - es gab noch nicht einmal einen Namen. Es war einfach eine blaue, kalte CD. Es wurde sogar überlegt, ob sich die CD einfrieren lässt, bevor sie verschickt wird, aber das war dann technisch nicht machbar. Es sollte eine ganz kalte CD sein, es gibt keine Gefühle. Die Stimme der Mutter wurde auf der CD von Gitane Demone (ehem. Christian Death) gesprochen/gesungen. Gitane singt auf dem Album in Deutsch und dieser Klang gepaart mit ihrem Akzent und Oswalds Sprachgesang hat schon einen gewissen Reiz. Musikalisch wirkt das Album kühl, die Instrumente klingen fremd, anders als man erwartet. Mit Effektprozessoren wurde z.B. ein Klavier im See versenkt. Die Musiklandschaft verschmilzt mit der Lyrik und wenn man sich auf dieses - zugegebenermaßen schwierige - Album einlässt, erfährt man ein Hörerlebnis der besonderen Art. Im Endeffekt findet man in diesem Kunstwerk unendlich viele Gefühle und Gedanken, auch wenn alles noch so kühl wirkt.

Die aufwendigen Live-Aufführungen des blauen Albums sind mir noch in guter Erinnerung geblieben. Es war schon ein fantastischer Anblick, wie Oswald bei „Spuren im Schnee“ in seiner theatralischen Art in kaltem Licht von Kunstschnee berieselt wurde ... Am Anfang blutrotes Licht, auf der Bühne nur ein Cello (gespielt von Harald Lindemann) und eine Gitarre (gespielt von Troy), der gesamte Rest, die Elektrik, war hinter einer Leinwand versteckt und man sah Mindy nur im Schatten. Die Videosequenzen zeigten die Musiker aus unterschiedlichen Perspektiven, von vorn, von der Seite, mal zeitsynchron, mal verzögert. Die eingebundenen Licht- und Videosequenzen transportierten das Gefühl der Kälte auf die Bühne. Oswald stürmte wie ein Wirbelwind in seinem weißen, weiten Häftlingsgewand über die Bühne. Erst nach dem Ende des Hauptaktes, bei den Zugaben, kam Susanne Reinhardt mit ihrer Geige auf die Bühne und es wurden ältere Stücke gespielt.

Mit „Schach ist nicht das Leben“ haben die Erben erstmalig neue Stücke vorläufig nur live vorgestellt. Im März 1996 gingen sie auf Tour, welche wesentlich eingängiger war, als ihr Vorgänger. Auf der „Schach“-Tour gab es einen Schlagzeuger und einen Bassisten. Mit von der Partie waren auch Harald Lindemann am Cello und Susanne Reinhardt an der Violine.

„Schach ist nicht das Leben“ setzt an der Stelle an, wo mit dem blauen Album aufgehört wurde. Am Ende von „Blau“ wurde eine weiße Eiswüste ohne jegliches Gefühl hinterlassen; mit dieser kalten, farblosen Welt beginnt das Märchen „Schach ...“. Am Anfang gibt es eine Welt in Schwarz und Weiß, gänzlich ohne Gefühle, ohne Farben; es gibt kein Auf, kein Nieder, es gibt nichts, was das Leben noch lebenswert macht – es ist alles Stagnation. Das erste Stück des Albums heißt „Keine Farben“ („Langsam schnell unfassbar - fließt Bewegung in leblose Masse - eilt starres Licht in bewegte schwarze Bilder“). Der Protagonist – letztlich wieder ein Rebell, der sich dagegen auflehnt – begibt sich gelangweilt auf die Suche nach Farben und entdeckt im Laufe dieser Suche die Gefühle, die verloren gegangen sind. Er zieht aus, um das wieder zu entdecken, was bereits in unserer Seele vorhanden war. Gefühle können sehr schön in Farben dargestellt werden und so steht jedes Stück für eine eigene Farbe und ein eigenes Gefühl. Bei „Gleiten“ findet der Akteur Vertrauen, bei „Nur ein Freund“ Freundschaft, bei „Ein Moment der Ruhe“ („lustvoll flüsternd - Höre nichts - spüre Haut“) Lust, bei „Nacht der tausend Worte“ („Der Schatz verborgen im rosa Fleisch - der Auster“) Liebe, bei „Lilien“ („’Leben?’’ Ein Odem an die Freundschaft mit dem Feind? - Der Kampf geht unter in Hoffnungslosigkeit“) Enttäuschung, bei „Seelenmord“ Hass, bei „Erkaufte Träume“ („So wundere Dich nicht wenn nur ein Bild - in Deiner Errinnerung von mir erzählt - Lebenszeit - geliehenes Gut - verträumt - ich hoffe nie verschwendet - unverstanden blieb meine Sucht - nach Einsamkeit“) Desillusion, bei „Begrüßende Worte“ (“Das Ziel das Ihr verspracht verloren - in Wahrheit wurde es nie geboren“) Gier, bei „Rot Blau Violett Grün Gelb“ Schmerz. Aus der weißen Bühne wird ein bunter Farbentopf, der sich auflöst. Der Protagonist kehrt enttäuscht zurück in seine schwarz-weiße Welt, er bringt jedoch die Gefühle mit. Am Ende hat er also alle Farben des Regenbogens gefunden und bringt sie zurück in seine farblose Welt. Es ist sicherlich nicht möglich, alle Gefühle als Farben darzustellen, ein Grundriss durch die positive und negative Gefühlswelt ist aber ohne weiteres machbar. Wenn Sonnenstrahlen durch Wasser fallen, entsteht ein buntes Farbenspektrum, welches das Auge erfreut. Dieselben Regenbogenfarben bilden sich auf einem Gesicht, das geschlagen wird. Dieser Gegensatz kommt im Stück „Rot Blau Violett Grün Gelb“ („Ein Schlag in das Gesicht - nicht das die Lippe platzt - nur die Haut verfärbt sich blau“) sehr gut zur Geltung. Aus einer zarten Kindermelodie wird ein beängstigender Militärmarsch.

Auch in negativen Dingen kann etwas Positives stecken und sei es nur, um aus den Fehlern zu lernen. Der Abschluss von „Schach ...“ nennt sich „Ein Gewinn für die Vergangenheit“ („In Erwartung wunderschöner Bildfragmente wage ich so den Schritt - in einen neuen Tag“).

Den Erben ist es gelungen, eine ganze Reihe des Gefühlsspektrums des Lebens mit der Reise des Akteurs zu verknüpfen.

„Schach ...“ wurde von den Erben zweimal aufgeführt. Bei der ersten Tour war „nur“ die Band an den Auftritten beteiligt, bei der zweiten Inszenierung im März 1997 kamen die Tänzerinnen von Ombra Ballare hinzu. „Schach ...“ funktionierte auch ohne Tanz, aber diese Ebene des Tanzes eröffnete der Formation ganz neue Möglichkeiten, da das Mittel der optischen Ebene hinzukam. Das Bühnenbild war ein riesiges Schachbrettmuster mit großen Schachbrettfiguren aus Plexiglas, kombiniert mit einer effektvollen Lightshow.

Oswald setzte sich im Laufe der Show eine Krone auf den Kopf. Als der Rebell wieder in sein Reich zurückkehrt, wird's bunt, da lebt der König noch und Oswald wird seine Krone von einer der Tänzerinnen gestohlen. In „Kondition: Macht!“ heißt es dann: Der König ist tot – es lebe der König.

Zur Zweitinszenierung erschien dann auch endlich die lang erwartete CD, die von FM Einheit (ehem. Einstürzende Neubauten) produziert wurde. Im Studio war die Gruppe mit sieben Leuten am Werk und durch einige Improvisationen und Feinarbeiten entstand eine sehr feinfühlige und lebendige CD.


[Zurück] [Weiter]